Gebrauchsbasierte Graphematik (FU Berlin)

Invited talk on 6 July 2023 at at Freie Universität Berlin. Download: Roland Schäfer: Gebrauchsbasierte Graphematik (Folien).

Der Graphematik – der Lehre von Schrift und Schreibung – wurde über viele Jahrzehnte von großen Teilen der Linguistik (von Strukturalismus bis Generativismus) die Zugehörigkeit zur eigenen Disziplin abgesprochen. Im Sinne des – vor allem von seinen lautstärksten Verfechtern – nie eingelösten nachgerade bizarren Anspruchs des Primats der gesprochenen Sprache wurde gerne ins Feld geführt, die Schreibung sei ein künstliches und überformtes, der Sprache nachträglich aufgezwängtes Konstrukt, das der für eine angemessene wissenschaftliche Sprachforschung nötigen Spontaneität entbehre. Man bediente sich stattdessen gerne der eigenen spontanen Grammatikalitätsurteile über schriftsprachliches Material. Schon die Beschäftigung mit der Geschichte der Graphematik des Deutschen entlarvt das Narrativ von der quasi am Reißbrett entstandenen Schreibung als Ente. Wir sehen ein sich den grammatischen Prinzipien langsam mehr oder weniger gut anpassendes und diese gleichermaßen formendes System im stetigen Wandel. Die Gebrauchsbasierte Graphematik (Schäfer & Sayatz 2014, 2016 usw.) geht als zunächst rein synchrone Betrachtungsweise über den diachronen Befund hinaus und knüpft dabei an Prinzipien der Gebrauchsbasierten Grammatik an. In gebrauchsbasierten Theorien ist die Grundannahme, dass lediglich der Input und allgemeine kognitive Mechanismen den Spracherwerb steuern. Beginnt der Schrift- und Schreibungserwerb auch spät und zunächst stark gesteuert, so sind lesende Lerner doch bald einer zunehmenden Menge von standardnahen und standardfernen Texten ausgesetzt, was dazu führt, dass basierend auf Ähnlichkeitsbeziehungen ggf. unscharfe Abbildungsmuster von grammatischen und lexikalischen Strukturen auf graphematische Realisierungen gelernt werden. Die Gebrauchsbasierte Graphematik versucht, diese Muster durch korpusbasierte und experimentelle Methoden zu dekodieren. Es geht also nicht um die normativen Regeln oder um eine „reine Systembeschreibung“, sondern um kognitiv reale Kategorien, die gerade dann gut sichtbar werden sollten, wenn normferne grammatische Phänomene oder Zweifelsfälle verschriftet werden, für die es intrinsisch keine (oder keine eindeutige) Normschreibung geben kann. Spätestens mit der Gebrauchsbasierten Graphematik werden also alle Scheinargumente gegen Graphematik an sich ausgeräumt. In diesem Vortrag stelle ich kurz die theoretischen Grundannahmen der Gebrauchsbasierten Graphematik und einige Fallstudien zur Schreibung des Deutschen vor. Der Vortrag schließt mit einer kurzen Diskussion des größten methodischen Grundproblems des Ansatzes und seiner möglichen Lösungen.