Q: MIR IST DER UNTERSCHIED ZWISCHEN PHRASEN UND SATZGLIEDERN NICHT KLAR. I. Operationalisierung Der Unterschied an sich ist relativ klar, aber eine der Voraussetzungen ist nicht so einfach. Also zunächst mal: Die Operationalisierung sagt, dass alle Phrasen, die vorfeldfähig sind, Satzglieder sind. Das ist erstmal nicht aufregend, s. (1). (1) a. [Für den Kollegen] habe ich das Auto besonders gründlich gewaschen. b. * [Des Kollegen] habe ich das Auto zu Schrott gefahren. Beide eingeklammerten Elemente sind Phrasen, aber nur die in (1a) ist vorfeldfähig und damit ein Satzglied. Die in (1b) ist kein Satzglied. II. Phrasen Das Problem ist vielmehr, was überhaupt eine Phrase sein soll. Ohne die Tests zu bemühen, versuche ich es mal mit einer anderen, inhaltlich besseren Erklärung, was eine Phrase ist: Es ist ganz offensichtlich so, dass bestimmte Wörter im Satz vorhanden sein müssen, damit andere Wörter überhaupt auftreten können. Anders gesagt gehören bestimmte Wortgruppen näher zusammen als andere, und dafür ist jeweils ein Element in der Wortgruppe besonders verantwortlich. In (2) ermöglicht erst das Subst „Garten“, dass das Adj „vorderen“ überhaupt auftreten kann. (2) Ich habe im [vorderen Garten] den Rasen gemäht. Außerdem bestimmt das Subst großenteils die Flexionsmerkmale des Adj (über Kongruenz). Das Subst „Garten“ ist hier der KOPF der Phrase [vorderen Garten]. Während manche Köpfe auch ohne weitere Begleiter im Satz stehen können, nehmen viele Köpfe auf diese Weise Begleiter zu sich. Die Begleiter „hängen syntaktisch vom Kopf ab“. Der Kopf und die Abhängigen bilden die Phrase. Die Abhängigen bilden aber i.d.R. auch selbst wieder Phrasen (z.B. das Adj als Kopf mit dem Modifizierer „ehemals“ als Abhängigem in (3)). (3) Ich habe im [[ehemals vorderen] Garten] den Rasen gemäht. Die NP [ehemals vorderen Garten] enthält also eine AP [ehemals vorderen]. Rein syntaktisch hängt die Anwesenheit von [ehemals vorderen Garten] aber von der Präp „im“ ab. Diese regiert schließlich auch den Kasus (Dativ) der NP. Also bildet auch die Präp mit der NP eine Phrase, s. (4). (4) Ich habe [im [[ehemals vorderen] Garten]] den Rasen gemäht. Phrasen sind also nichts anderes als syntaktische Pakete, die unter bestimmten strukturellen Bedingungen von Köpfen gebildet werden. Diese syntaktischen Pakete stehen fast immer als eine Wortkette im Satz, und sie haben in fast allen Sprachen eine stark festgelegte Reihenfolge, in der ihre Teile auftreten. Für eine NP aus einem Art, einer AP, einem Kopf-Subst und einem Relativsatz gibt es im Deutschen z.B. nur eine akzeptable Reihenfolge, s. (5). (5) a. [[ein] [ziemlich großer] Baum [der hier schon seit 33 Jahren steht]] b. * [[ziemlich großer] [ein] Baum [der hier schon seit 33 Jahren steht]] c. * [[ein] [der hier schon seit 33 Jahren steht] [ziemlich großer] usw. Ähnliches gilt für die kleineren Phrasen, die in der NP eingebettet sind, s. (6). (6) a. * [[ein] [großer ziemlich] Baum [der hier schon seit 33 Jahren steht]] b. * [[ein] [ziemlich großer] Baum [der steht hier schon seit 33 Jahren]] usw. Damit erklären wir also, warum (5a) eine grammatische Konstruktion des Deutschen ist, aber (5b,c) (6a,b) und viele andere Ketten von Wörtern nicht. (Die Grammatik hat die Aufgabe, die zulässigen von den nicht-zulässigen Wortketten zu unterscheiden. Falls Ihnen das nicht ganz klar ist, bitte nochmals Video 1 ansehen bzw. die zugehörigen Kapitel im Buch lesen.) Ich wüsste nicht, wie man das anders erklären sollte als durch Bezug auf Phrasen. Dass im Relativsatz „der“ am Anfang stehen muss, liegt an der Struktur von Relativsätzen. Das kann man nicht effizient an derselben Stelle erklären, an der man erklärt, warum „ein“ vor [ziemlich großer] stehen muss und warum das wiederum vor „Baum“ stehen muss. Semantisch-funktional gesehen sind Phrasen syntaktische Reflexe der Tatsache, dass wir Informationen in Bündeln formulieren, die als eine zusammenhängende Einheit (Wortkette) formuliert werden. Das ist das sogenannte Lokalitätsprinzip. Wenn wir über einen Baum sprechen, müssen alle weiteren spezifischen Informationen zu diesem Baum in der unmittelbaren Nähe des Worts „Baum“ formuliert werden usw. Ursächlich liegt das wohl daran, dass Sprache (1) linear sein muss, weil wir einen Laut nach dem anderen artikulieren und ein Schriftzeichen nach dem anderen Schreiben müssen, und (2) weil wir Sprache neuronal verarbeiten und neuronale Verarbeitung nicht optimal funktioniert, wenn linear übermittelte Informationen nicht in solchen Paketen verpackt ist. Diese eigentlichen Kernthemen der Linguistik kommen allerdings in der Lehre schon lange nicht mehr vor. Nur sehr wenige Konstruktionen durchbrechen diese strenge Form von Lokalität, im Deutschen z.B. die Satzgliedstellung im unabhängigen Aussagesatz. Dabei bewegen wir ein Verb und ein sog. Satzglied (eine vom Verb abhängige Phrase) an den Satzanfang. Darüber reden wir in der zweiten Hälfte des Semesters. Alle Tests auf Phrasenstatus versuchen auf die eine oder andere Art, die genannten Informationspakete zu ermitteln: Die syntaktischen Korrelate der Informationspakete (= Phrasen) können (1) als Ganzes hin- und hergeschoben werden, (2) mit und/oder zusammengefasst werden, (3) durch Stellvertreter wie Pronomina ersetzt werden, wenn das Informationspaket aus dem Kontext ergänzt werden kann. Dass die Tests nicht richtig funktionieren, liegt an Details einer im Normalfall recht komplexen natürlichsprachlichen Syntax und nicht daran, dass das Prinzip nicht funktionieren würde. Was konkret als welche Art von Phrase analysiert wird, muss eine Grammatik daher erst einmal im Detail entscheiden. Es gibt für das Deutsche seit 50 Jahren einen Konsens über 95% der Phrasen, und die Linguistik streitet sich auf eine fast schon bizarre Weise über die verbleibenden 5% sowie über die genaue Art, wie Phrasen zu beschreiben sind. Im Laufe der Vorlesung sagen Ihnen dann die Phrasenschemata ganz eindeutig und exakt, was ich für die ca. 10 wichtigsten Phrasentypen des Deutschen halte und wie diese aufgebaut sind. Damit können Sie eine sehr große Zahl von Sätzen des Deutschen eindeutig analysieren. III. Satzglieder Mit Satzglied ist nun in der Regel eine Phrase gemeint, die vom Verb abhängt. Der Begriff umfasst schulterminologisch gesprochen das Subjekt und die Objekte (= die Ergänzungen des Verbs) sowie die adverbialen Bestimmungen (= die Angaben zum Verb). Die Operationalisierung „Satzglieder kannst du ins Vorfeld stellen.“ verpasst den eigentlichen Zweck der Übung, und sie ist sowieso untauglich. Für (1a) gilt aber zunächst, das [für den Kollegen] direkt vom Verb abhängt. In (7a) wird der Satz als Nebensatz wiederholt, da im Nebensatz strenge Lokalität herrscht, und die abhängigen Phrasen des Verbs als zusammenhängende Kette vor den Verben stehen. Den Komplementierer „dass“ können wir bis zu den Lektionen 6–8 zunächst ignorieren. In (7b,c) sehen wir, dass das Ganze nichts mit dem Vorfeld zu tun hat, denn auch innerhalb eines Nebensatzes gehört [des Kollegen] in die Phrase [das Auto [des Kollegen]] und sonst nirgendwo hin. Diese NP formuliert das relevante Informationspaket. (7) a. dass [ [ich] [für den Kollegen] [das Auto] [besonders gründlich] gewaschen habe] b.* dass [ [des Kollegen] [ich] [das Auto] [zu Schrott] gefahren habe] c. dass [ [ich] [das Auto [des Kollegen]] [zu Schrott] gefahren habe] Satzglieder sind also Abhängige des Verbs, und alle Phrasen, die keine Satzglieder sind, sind typischerweise in Satzglieder eingebettet. Mehr ist es nicht. Warum man darauf in der Schule so herumreitet, weiß ich nicht. Fragen Sie das Ihre Lehrer, die Schulbuchverlage und alle, die sonst noch auf der Wichtigkeit des Satzglieds bestehen. Abschließend noch der Grund, warum die Operationalisierung („Satzglieder kannst du ins Vorfeld stellen.“) nicht funktioniert. Einerseits können wir Dinge ins Vorfeld stellen, von denen niemand behauptet, sie seien Abhängige des Verbs. Dazu müsste (aus der Morphologie) zunächst noch bekannt sein, dass Verben im Deutschen oft Hilfsverben usw. zu sich nehmen, die dann eine komplexe (analytische) Verbform bilden, z.B. „angestrichen werden durften“. Von diesen wird nur die finite Verbform vorangestellt, und vor ihr befindet sich das sog. Vorfeld. Man denkt an Sätze wie (8), in dem alle Teile der analytischen Verbform in {} gesetzt wurden. Die finite Verbform steht in {{}} [Die Türen] steht im Vorfeld und ist ein Satzglied. (8) [Die Türen] {{durften}} [nur mit gelber Farbe] {angestrichen werden}. Das andere Satzglied wäre [nur mit gelber Farbe], wie (9) zeigt. (9) [Nur mit gelber Farbe] {{durften}} [die Türen] {angestrichen werden}. Leider geht aber auch Satz (10), in dem die infiniten Verben ins Vorfeld gestellt wurden. Niemand möchte aber {angestrichen werden} als Satzglied bezeichnen. (10) {Angestrichen werden} {{durften}} [die Türen] [nur mit gelber Farbe]. Ebenfalls geht sowas wie in (11), wo ein Satzglied (oder mehrere Satzglieder) zusammen mit infiniten Verben im Vorfeld steht (stehen). „Das Haus renoviert“ ist erst recht für niemanden ein Satzglied. (11) [Das Haus] {renoviert} {{hat}} [eine Firma aus Tschechien]. Ein weiteres Argument gegen den Satzgliedwahnsinn ist, dass es natürlich auch in eingebetteten Nebensätzen Abhängige des Verbs (des Nebensatzes) gibt. Wenn wir (8) in einen Nebensatz verpacken, kommt sowas wie (12) raus. Der Nebensatz steht in <> (12) Alle wussten, . Durch die Einbettung im Nebensatz ist es den Satzgliedern des Nebensatzes aber (aufgrund von Lokalitätsbeschränkungen) nicht mehr möglich, ins Vorfeld zu rutschen, s. (13). (13) a. * [Die Türen] wussten alle, . b. * [Nur mit gelber Farbe] wussten alle, . Es gibt zwar eingeschränkte Fälle in manchen Dialekten des Deutschen, in anderen Sprachen und eventuell ganz marginal im Standarddeutschen, in denen sowas geht. Aber normalerweise kommen Satzglieder aus der mit <> abgegrenzten Domäne nicht heraus. Die Operationalisierung unterwandert also ein bisschen die Idee hinter der Definition. Wir hatten so einen Fall im Text von Langgässer in der letzten Präsenzsitzung. Falls Sie sich fragen, in welchen Fällen die sogenannten lange Extraktion möglich ist, überlegen Sie, wie Sie (14) im Vergleich zu (13) finden. (14) [Wen] glaubst du ?